Donnerstag, 17. Juli 2014

Plagiat und Selbstmord: Notizen zu Hegel

In der Hoffnung, dass mein geistiges Werken gemächlich wieder in einen brauchbaren Rhythmus komme im folgenden einige Überlegungen zu Hegels „Rechtsphilosophie”. Ich kam zu besagter Schrift über den Umweg der Plagiatsvorwürfe gegen Slavoj Zizek, welcher mir vor allem als beflissener Hegelausleger bekannt geworden ist. Flugs ging ich in der „Rechtsphilosophie”, die ich ohnehin je nach Tagesform derzeit ein wenig durchwate, auf die Suche und wurde im Abschnitt zum Eigentum bei §69 fündig. Diesen Paragraphen möchte ich nun zusammenfassen und ihm die Entschuldigung Zizeks vergleichend zur Seite stellen. Der anschließende §70 ist gerade im Hinblick auf rechtsphilosophische Fragen, die mich aktuell beschäftigen, weitaus interessanter und wird dementsprechend mit ausführlicherer Behandlung bedacht.

Ich beziehe mich auf eine Suhrkamp-Textfassung aus den Siebzigern, die dankenswerterweise von einem Frankfurter Professor digital zur Verfügung gestellt wurde. Alternativ existiert auch eine vollends gemeinfreie Version, die dem/der Leser/in allerdings Hegel Zusätze vorenthält.

Nach einiger Textlektüre bin ich zum Ergebnis gelangt, dass Hegel im §69 (S.146ff) folgende Position bezüglich geistigen Eigentums zum Ausdruck bringt: Bei Sachen, deren Wesen darin liegt, von der materiellen Form ihrer Darbietung unabhängig zu sein, ist zwischen dem Eigentümer des Einzelgegenstands und dem allgemeinen Eigentümer (heute: Urheber) zu trennen. Sodann fragt er sich, ob diese Trennung überhaupt zulässig ist, oder ob nicht vielmehr der Begriff des Eigentums selbst durch die Spaltung in Besitzer/Verwender und Eigner, der als einziger volles Eigentum hat, zerstört wird. Wenn man den Text mehrmals liest wird nachvollziehbar, wie Hegel diese Fragestellung beantwortet. Er argumentiert, dass es in der Natur geistigen Eigentums liege, eben diese Spaltung aufzuweisen und dass deshalb Einwände, die auf materielles Eigentum abzielen, fehlgehen.

Der Kernsatz lautet: „Diese Möglichkeit hat nämlich das Eigene, an der Sache die Seite zu sein, wonach diese nicht nur eine Besitzung, sondern ein Vermögen ist (s. unten § 170 ff.), so daß dies in der besonderen Art und Weise des äußeren Gebrauchs liegt, der von der Sache gemacht wird und von dem Gebrauche, zu welchem die Sache unmittelbar bestimmt ist, verschieden und trennbar ist (er ist nicht, wie man es heißt, eine solche accessio naturalis wie die foetura)” 

Hegel erklärt, und hier wird offenkundig, warum er manchmal so schwer verständlich ist, nur einmal, was „Möglichkeit” im §69 bedeutet, um darauf mit verschiedenen Pronomina an ungünstigen Stellen selbigen Begriff zu bezeichnen. Im Grunde meint er 'Reproduktionsmöglichkeit'. Geistige Gegenstände sind also nicht nur Besitz, sondern Vermögen, eben weil sie eine gewisse 'Darstellungsunabhängigkeit' aufweisen. Hegel ist Hegel, auch am iMac auf zeno.org. Kurz gesagt: Weil also der äußerliche Gebrauch geistigen Eigentums ganz von selbst in zwei Teile zerfällt, nämlich in Konsument und (Re-)Produzent ist die rechtliche Diskriminierung zulässig.  Nun tritt Hegel entschieden für Urheberrechtsschutz ein, vordringlich weil er zuvor gezeigt zu haben meint, dass das geistige Eigentum dahingehend dem materiellen gleiche. So ist auch die Analogie zum Schutz des Handels gegen Raubüberfälle zu erklären. Tenor: You wouldn't download a car. Allerdings ist sich Hegel der enormen Schwierigkeiten bewusst, geistiges Eigentum korrekt zuzuordnen, da kaum festgestellt werden kann, ab welcher Schwelle der Variation ein Ursprungswerk zu dem des Variierenden wird. Ob Reproduktions/Rezeptionsleistungen im (geistes)wissenschaftlichen Betrieb ein Plagiat darstellen oder nicht, lässt sich nach Hegel nur selten rechtssicher nachweisen. Konsequenterweise stellt er auf die persönliche Ehre zur Verhinderung von Plagiaten ab. In der Beschäftigung mit diesen Themen gleitet Hegel fast in die Polemik ab, was sich im Diminuitivgebrauch niederschlägt. Man ist geneigt, persönlichen Ärger dahinter zu vermuten.

Besieht man nun die entschuldigende Klarstellung Zizeks, so kann man ihm seiner eigenen Argumentation nachgehend mit Hegel vielleicht zugute halten, dass er gerade nicht durch ein „Modifikatiönchen” (S. 149) fremde geistige Leistung in eigene zur transformieren suchte, sondern vielmehr eine verhältnismäßig analysefreie Zusammenfassung übernimmt. Auffallend im direkten Textvergleich sind aber doch einige editorische Änderungen, aus denen klar folgt, dass jemand sich mit dem Text befasst und ohne Antastung des Inhalts um größere Lesbarkeit bemüht hat. Der trügerische „Stempel des seinigen” scheint zwar ein geringeres Vergehen, wenn er originären Thesen des Autors fernbleibt, ist aber gleichwohl eines, da er die von Hegel aufgezeigte Eigentumsspaltung missachtet. Mit der Absicht des Verschleierens findet sich das Plagiat in besonders düsterer Gesellschaft. Doch ich will Zizek hier nichts weiter unterstellen. Mag sein, dass sein Freund spaßeshalber ein bisschen im Text herumgefuhrwerkt hat, und ihn dann nichtsahnend weiterverschickte. Der Großmütter- und Erstsemester-Rat, fremde Sätze in eigenem Text zu vermeiden oder klarzumachen bedarf hier keiner weiteren Erläuterung. Die offene Formulierungsübernahme ist in meinen Augen entgegen öffentlicher Ansicht meist keine Schandtat, sondern eine Ehrerbietung. Dem inkriminierten Journal freilich gebührt hier wenig Ehre. Wie ein solcher Fauxpas abzustellen ist? Man ist geneigt zeitgenössisch zu rufen: Let me google that for you.
Abschließend noch ein Verweis auf Rezeption der Hegel'schen Überlegungen an anderer Stelle im Kontext der Schavan-Affäre.

Nun weg von solch ephemeren Äffären und zum hochinteressanten §70. Hegel wendet sich hier gegen den Selbstmord, denn er ist grundsätzlich der brisanten Auffassung, man habe kein Recht am eigenen Leben und an der eigenen Person. Der Staat allein habe dieses, und dürfe ergo den Tod des Einzelnen fordern. Das Argument erscheint mir wenig haltbar, ist aber durchaus tiefgründig und mir bislang im Kontext Sterbehilfe noch gar nicht in den Sinn gekommen, weil ich derlei Rechte immer für selbstverständlich hielt. „Verstehen kann man es wohl, aber nicht rechtfertigen” Diesem Urteil Hegels kann ich also ersichtlich nicht folgen, und muss mich nun damit befassen, seinen Einwand abzuwehren. Er trifft nämlich in den Kern meines Arguments, welches entlang der Metapher der inneren Zitadelle (Isaiah Berlin) ein Recht forderte, jene den Tod der Hausherrn verursachend einzureißen, indem er Haus und Herrn für untrennbar hält.
Grundsätzlich möchte ich nachstehende Verteidigung unter Verwendung von Textschnipseln aus einem älteren Vortragsskript vorbringen: Wenn die Religion aus der Sphäre des Faktischen ausgeklammert und als menschliche Phantasie betrachtet wird, dann folgt, dass wir unser Leben nicht geliehen, nicht gepachtet, nicht entlehnt haben von einer höheren herrschenden Macht. Dann folgt, dass wir kraft der Menschenwürde allein gegenüber uns selbst und der Gesellschaft Verantwortung tragen. Hegel stellt die Gesellschaft bzw. den Staat weit über das Individuum. Gerade diese Sicht erscheint mir widersprüchlich. Wenn in der Extremsituation dem Einzelnen die höchste, weil finale, Entscheidung hin zum eigenen Tod durch den Staat mit Hegels Argumentation verwehrt wird, steigt dieser höher als es die eigenen Fundamente erlauben und muss fallen. Der Staat nämlich ist gebaut auf die Menschenwürde als freie Selbstbestimmung gleichberechtigter Individuen, und er darf diese seine Quelle nicht mehr als unbedingt zu ihrem Selbsterhalt nötig beschränken. Anders gesagt: Ich sehe keinen Grund, auf den man die Hegel'sche Forderung sicher stellen könnte. Damit ist noch nicht widerlegt, dass Persönlichkeit und Leben eins sind, aber gezeigt, dass eine solche Annahme hochgradig inkompatibel mit dem individualistischen Würdemodell heutiger Grundrechte ist.

Anders steht es mit einer Bewertung des Suizids von außen. Auf verschiedene Weise kann man nämlich überzeugend darlegen, dass es nicht Sache des Staates ist, den Selbstmord durch die Exekutive zu ermöglichen, sondern dass er ihn vielmehr, obwohl von innen gerechtfertigt, in fast allen Situationen verhindern muss. Ich möchte die dazu von mir gebrauchten Rechtfertigungen hier jetzt nicht einzeln vorstellen, das würde den Rahmen sprengen. Grundsätzlich geht es aber immer darum, dass der Staat sich nicht über die Qualität der Entscheidung des Suizidenten sicher sein kann und daher von "er/sie wird sich den eigenen Tod nicht gewünscht haben werden" ausgehen muss.

Man kann aber auch einen einigermaßen anderen „Denkweg” (Axel Honneth hat mich mit diesem wunderbaren Wort vertraut gemacht) verfolgen. Zunächst wird Hegel Recht gegeben, dass man von einem eigentumsähnlichen Verfügungsrecht über das eigene Leben nicht sprechen kann. Angenommen dem wäre nämlich so, dann würde die Entäußerung am Eigentum des Lebens die Unmöglichkeit jedweder weiteren Eigentumshandlung logisch hervorbringen, wodurch sich jene Entäußerung von allen anderen unterscheidet. Lax gesprochen: Sich das Leben nehmen geht nicht auf ebay. Diese Unterscheidung führt zu einer ungerechtfertigten begrifflichen Verwirrung. Genannter Verwirrung möchte ich durch einen Neologismus entgehen. Das Verhältnis zwischen Person und Leben ist zwar in der Tat ein eigentumsähnliches, aufgrund der oben gezeigten Letalität der Entäußerung doch fundamental verschiedenes. Eigensein scheint mir der geeignetere Begriff. Ich habe den Befehl über mein Leben, nicht aber den Besitz daran, da der Begriff des Besitzes sich durch einen reflexiven Zusammenfall von Besitzer und Besitz auflöst. Besitz bedarf der Differenz. 
Sodann geht dieser Denkweg in den obigen über, denn auch Eigensein erfordert das Recht zur Selbstzerstörung, um nicht widersprüchlich die Selbstbestimmung gegen sich selbst ins Feld zu führen. Ein Recht über sich hat man dann immer noch, aber es ist kein Recht über ein äußeres, und der Zirkelschluss ist ein willkommener, ihm allein entspringt nämlich die Garantie der Freiheit.

Zum Ausklang möchte ich noch zwei Punkte vorbringen, die mir nach Abfassung obiger Textstellen online begegneten. Wohnortbedingt verbrachte ich den vorgestrigen Tag größtenteils außer Haus, da eine Bombenentschärfung vonstatten ging. Wieder daheim recherchierte ich ein wenig zu den Rechtsgrundlagen der Verbannung. Irgendein liberaler Instinkt in mir störte sich nämlich daran, dass es volljährigen Anwohnern untersagt ist, auf eigenes Risiko im Sperrbereich zu bleiben. Nicht dass ich dergleichen vorgehabt hätte, aber die von meinen Diskussionspartnern zum Gedankenexperiment aufgeworfenen Einwände vermochten mich nicht vollständig zu überzeugen. Meist wurde auf Eigentumsschutz (die Mehrheit der Wohnungen steht ja kurzfristig leer) oder praktische Undurchführbarkeit abgestellt. Diesen Schwierigkeiten wären aber durch Aufenthalt in der Nähe der Einsatzkräfte und Ausfüllen eines Formulars inklusive Kennzeichnung der eigenen Person beizukommen. In der Lösung zu einer Klausur an der HWR Berlin fand sich ein umfassenderes Argument: „Die Grundrechte [sind] Ausdruck einer objektiven Werteordnung (...), die eine objektiv-rechtliche Schutzpflicht der Staatsorgane begründen. Hier überwiegt die staatliche Sicherheitsgewährleistung das freiheitssichernde Wesen der Grundrechte. Je höher der Rang des betroffenen Grund- rechts und intensiver die Gefahr, desto schwächer die Möglichkeit des Grundrechtsträgers zum Selbstschutz und umso höher die staatliche Schutzpflicht.” (aus: Letzte Seite obiger Link) Ergo gibt es speziell im vorliegenden Fall, aber vielleicht auch allgemein kein 'Recht auf Selbstgefährdung'. Mit den obigen pragmatischen Einwänden ist der Fall sicher schneller gelöst, aber das Argument aus der Musterlösung entfaltet sich in ungleich gewaltigere Tiefen, denn viel menschliches Handeln ist naturgemäß Selbstgefährdung. Hier gelangt man wieder zum schwerwiegenden Thema des Selbstmords und der Sterbehilfe, die mir aktuell noch viel mehr ein Anliegen ist. Der Mainzer Jurist Friedhelm Hufen argumentiert nämlich in seinem Aufsatz „In dubio pro dignitate” in Berufung auf verschiedene Quellen ähnlich: Weil der Staat eine Schutzpflicht für das Leben und die Achtung desselbigen als hohen Wert in der Gesellschaft hat, sei ein Verbot der aktiven Sterbehilfe verfassungsrechtlich gerechtfertigt. Die individuelle Freiheit werde also staatlichen Schutzbestrebungen untergeordnet. Nichtsdestotrotz erkennt Hufen dem Gesetzgeber in diesbezüglichen Angelegenheiten weiten Entscheidungsspielraum zu, der auch zur Erlaubnis der aktiven in genau begrenzten Fällen führen könne. Die vorherige Verbotsrechtfertigung wird aber von dieser relativierenden Feststellung Hufens in seiner Wirkmächtigkeit nur wenig beeinträchtigt.

Im Falle der Bombenentschärfung ist die staatliche Schutzpflicht, wie auch andere Argumente, sicherlich berechtigt ins Feld geführt. Aus Lust an Sensation und Gefahr oder aus Bequemlichkeit eine Entschärfung zu stören ist schwerlich eine begründete Handlung. Anders aber ist es mit der Entscheidung über das eigene Leben, bei der sich die Freiheit des Menschen in größte Höhen aufschwingt um sich vernichtend hinabzustürzen. Wie das Argument hier genau zu bewerten ist, und wie vielleicht ein innerer Zusammenhang zwischen beiden Situationen genau gestaltet möchte ich andernorts und anderntags untersuchen.
Der zweite Punkt ist lediglich ein themenbezogener Hinweis: Der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland hat erklärt, er werde den möglichen Wunsch seiner Frau nach Sterbehilfe aus Liebe und entgegen seiner Überzeugung unterstützen.

Mit diesem Exkurs möchte ich die Spaziergängen durch den Hof des Idealismuskaisers zum Ende bringen, bedauere kurz nicht noch die Diskurstheorie eingeflochten zu haben und verabschiede mich in der Hoffnung, verständlich und erhellend gewesen zu sein.