Dienstag, 29. November 2011

Vom Glücke und den schönen Dingen

Glück ist eine Empfindung, die sich aus der individuellen Perzeption unseres unmittelbaren Erlebens und dessen folgender Verarbeitung herleitet. Weil aber diese Perzeption so radikal unterschiedlich und so sehr vom Wesens des Wahrnehmenden abhängig ist, gibt es kein "generelles Glück", so wie es auch keine "generelle Schönheit" gibt . Der Vergleich mit der Schönheit zeigt aber dennoch, dass natürlich "Kriterien" existieren, anhand derer wir solcherlei Empfindungen definieren; andernfalls wäre es uns vollkommen unmöglich, darüber überhaupt zu sprechen. Zu denen gehört die Form und Art einer Sache oder eines Ereignisses. Da unter Form auch die "Menge" zu verstehen ist, kann der Reichtum einer Person zu diesen Kriterien gehören. Wer aber niemals reich war, dem fehlt die eigene Perzeption dessen aber vollkommen; dennoch kann er glücklich sein, weil sein selbst aus anderen Kriterien heraus Glück empfindet. Ob Reichtum auch dazugehört, zeigt vielleicht gute Selbstreflexion, mit Sicherheit aber verunmöglicht es der obige Grundsatz ihn generell aus den Kriterien zu verbannen.
Natürlich besteht auch ein Zusammenhang unseres Glückempfindens mit evolutionären Gegebenheiten, grundsätzlich nämlich darin, dass ohne die momentane Konzeption unseres Verstandes, welche sich ja durch die Evolution herausbildete, (wahrscheinlich) kein Glück möglich wäre. Leicht könnte man nun sagen, das Arterhalt eines der angeblich unmöglichen Glückskriterien sein muss. Die Komplexität unseres Verstandes ermöglicht aber auch bewusstes Fernbleiben vom Arterhalt ohne Glücksminderung, wie jeder, der Menschen ohne Kinder kennt, wissen dürfte.
Ein Kriterium was immer gilt findet sich aber trotz alldem: Der Selbsterhalt. Alles was lebt, will naturgegeben nicht sterben. Aus diesem Egoismus heraus entsteht der Trieb zur Verbesserung der eigenen Lebensumstände. Da wir (möglicherweise) kein weiteres Glück empfinden können, wenn wir tot sind, bedingt Glück unser Überleben; es ist als "allgemeines Kriterium". Was aber tat dann ein Selbstmörder? Zweierlei könnte ihn vom Glück abgebracht haben, sofern er es nicht im Tod suchte: hirnstoffwechselbedingtes Fehlen von Glücksempfindungen (Depression) oder eine ihm völlig ausweglos scheinende Lebenssituation; eine in der er keinen Weg zum Glück mehr sieht. Die Phänomenologie eines Selbstmörders ist aber vermutlich so komplex, dass er bei der Betrachtung des Lebensglück von einem allgemeinen Standpunkt aus außer Acht gelassen werden kann.

Eine Suche nach Utopien und Dystopien

oder

auf dem Wege sind wir glücklich

Ein Essay

So wie es keinen infinitesimalen Punkt in der Realität gibt, gibt es auch keine Tatsache, keine Daseinsform ohne zwei Seiten, ohne mehrere Aspekte; ja ohne die Möglichkeit einer differenzierten Betrachtung[1].Daraus folgt, dass niemals ein völlig nachteilsfreier gesellschaftlicher Zustand eintreten kann, dass ein Augenblick absoluter persönlicher Freude und Glücks niemals mehr als ein Augenblick werden kann und somit nicht umfassend und auf große Zeiträume ausdehnbar ist[2].
Dieser Zustand der Nachteilsfreiheit ist eine Utopie, sozusagen ihr Inbegriff. Eine Utopie ist meist Stagnation innerhalb eines festgelegten normativen Systems, welches zur gewünschten Nachteilsfreiheit führt[3].
Eine Stagnation aber kann gleichsam Paradies und Hölle sein, und da es im Wesen des Menschen liegt, Aspekte diskursorientiert zu betrachten, d.h. in diesem Beispiel beide Extremata zu sehen, und das jeweils aus persönlicher Perspektive, ist eine Utopie auf Erden unmöglich. Es kann in meinen Augen, und diese These gilt, bis sie jemand durch ein Beispiel widerlegt, gar keinen uneingeschränkt positiven Zustand der Gesellschaft geben, es sei denn, jemand unterdrückt den Vorgang des Erkennens der „Mehrseitigkeit“ im menschlichen Wesen, welches mithin mit einer Utopie unvereinbar ist; denn diese Unterdrückung des Menschseins selbst schafft unweigerlich[4], und dieses zu zeigen ist die von Aldous Huxley in „Brave New World“ vollbrachte Leistung, eine Dystopie. Ähnlich verhält es sich auch mit dem Paradies, was für Adam und Eva durch den Gewinn der differenzierten Betrachtung, der Erkenntnis, unzugänglich wird. Der Mensch kann sich, so scheint mir die Ansicht der gängigen Exegese zu sein, das Paradies erst vorstellen, es erleben, wenn er von seinen „körperlichen“ Eigenschaften reingewaschen ist.

Das alles bestätigt nun, dass eine Utopie zwangsläufig irreal ist (was ja auch eigentlich dem Wortsinn „Nicht-Ort“ innnewohnt), aber auch niemals real werden kann, da entweder die ihr zugrundegelegten Eigenschaften irreal sind[5], oder aber ihre Umsetzung, ihre Form dem Ziel widerspricht. Wir streben dennoch nach dem Besten, und suchen nach dem Glück. Und jenes streben ist auch nicht ziellos; denn der vielfach unternommene Versuch einer Annäherung an eine Utopie ist möglich, sie zu erreichen jedoch nicht, gleich einer mathematischen Funktion, die niemals zum Limes gelangen wird. Die Grenze ist unsere Existenz, die Grenze ist Materie selbst[6].
Diese Annäherung zu leisten, den Limes auf dem unendlichen Diagramm der Ereignisse und Tatsachen des Lebens auszumachen, den Verlauf des Graphen menschlichen Daseins bis dorthin zu entwerfen, darauf aufmerksam zu machen, wenn er sich von der gezogenen Grenze entfernt, die Koeffizienten und Exponenten, die „Kriterien des Glückes“ zu erstreben ist eine der vielen, aber vielleicht die zentralste aller Aufgaben, die den Philosophen in ihrer Liebe zum Denken gestellt ist.[7]

Anmerkung:

Selbstverständlich können und müssen sich die Vorstellungen, die aus dem Befassen mit dieser Aufgabenstellung hervorgehen, unterscheiden. Eine ewige Annäherung an „das Beste“ ist nämlich nahezu gleich der Stagnation, die ich oben ansprach. Sie sollten somit eine Funktionsschar bilden, vielleicht auch nur ein Gleichungssystem[8], wenn ihre Differenzen zu groß sind. Meine Utopie ist, dass wir auf dem Weg sind und sein werden, und niemals am Ziel und dass wir in diskursiver Antizipation der möglichen Zukunft, der „Limessuche“ eine Welt schaffen, in der uns allen wohler ist.

Fußnoten

[1] Dieses Postulat erscheint zwar sehr gewagt (und ist es auch), sagt aber lediglich aus, auf die Schwierigkeit einer absoluten Wahrheitsfindung anspielend, dass jegliche Situation in meinem Leben einer Abwägung unterzogen werden kann. Einen „Nachteil“ gibt es immer. Beispiele, wo dieser nicht existiert erwarte ich gerne.

[2] An seine Stelle kann eine „Lebensversöhntheit“ treten, die Menschen, welche sich selbst als glücklich empfinden, zu eigen ist. Darunter verstehe ich, seine Lebensumstände zu akzeptieren, und damit zukunftsorientiert zu leben. Es gibt kein für alle Menschen gleiches und aus gleichen Umständen folgendes Glück.

[3] Die Parallelen zum „Ende der Geschichte“, welches in den 90ern von konservativen Denkern, insbesondere Francis Fukuyama in Bezug auf die freie Marktwirtschaft mit demokratischem Überbau proklamiert wurde, sind deutlich erkennbar. Hier erklärte man also den theoretischen Status quo der westlichen Welt zur erreichten Utopie, und machte folgend eine Zwangsläufigkeit in der Geschichte aus, die zu dieser führen musste.

[4] Mit der Einschränkung des heutigen Wertekontextes der Menschenrechte.

[5] Wie etwa, meiner Meinung nach, Platons Auffassung über die „Phiolosophenkönige“, der „homo oeconomicus“ als stets umfassend informiertes Wesen und auch der nach bestem Wissen und Gewissen wählende Bürger. Wir begegnen einer Menge solcher Vorstellungen im Alltag, dennoch müssen sie nicht zwangsläufig schädlich sein, wenn man ihre „Utopittät“, ihre utopischen Komponenten zu erkennen vermag.

[6] Um es einmal vage, aber poetisch auszudrücken.

[7] Damit habe ich wohlmöglich die von Kant an die Philosophie gestellten Fragen „Was soll ich hoffen?“, „Was darf ich tun?“ und „Was ist der Mensch?“ hergeleitet ohne es direkt zu beabsichtigen. Von einer Antwort bin ich weit entfernt, auch wenn ihre Notwendigkeit zu jedem Zeitpunkt gegeben ist.

[8] Zur Aufrechterhaltung des mathematischen Bildes